Der Schrecken steht Serge ins Gesicht geschrieben. Er kann immer noch nicht fassen, was letzte Nacht passiert ist. Der kalte Wind, das Wasser, die Wellen. Die Dunkelheit. Und dann das Schreien seines Sohnes. Serge (29) schaut stumm auf den Schnuller in seiner Hand und lässt in von der einen Hand in die andere fallen. Immer wieder geht ihm der Satz des marokkanischen Polizisten durch den Kopf, der ihn und die anderen aus dem Schlauchboot geholt hatte: Serge verdiene es nicht, Vater zu sein.
Serge legt den Schnuller beiseite und setzt sich zu seiner Freundin Joelle (26). Sie hat sich zu dem Kleinen auf die Matratze am Boden gelegt. Auch ihr steckt die Aufregung der letzten Nacht noch in den Knochen. Zerknautscht rappelt sie sich auf, als Serge sich zu ihr setzt. Nichts hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als ihr Kind in Europa zur Welt bringen zu können. Nicht hier in Marokko. Aber es hat nicht sein sollen. Alle Versuche, noch vor der Geburt des Kindes über das Meer zu kommen, waren gescheitert. Genauso wie letzte Nacht.
Eigentlich hatte der hochgewachsene Serge hatte das Baby vom Ufer zum Boot tragen sollen. Das Schlauchboot kann nicht direkt am Ufer auf das Wasser gesetzt werden, die spitzen Steine würden es beschädigen. Die Passagiere tragen das Boot ins tiefere Wasser, die anderen waten hinterher und steigen vom Wasser aus ein. Doch noch bevor Joelle das Baby auf Serges Schultern hatte festbinden können, tauchte plötzlich die marokkanische Polizei auf. „Plötzlich sind alle ins Wasser gerannt und haben versucht zum Boot zu kommen“, sagt Joelle. „Auch ich bin losgerannt, den Kleinen auf dem Arm. Das Wasser wurde immer tiefer und stand mir bis zur Brust. Dann kam diese Welle und hat mir den Kleinen aus den Händen gerissen.“ Für Serge war es der schrecklichste Moment in seinem Leben. Er hatte es schon zum Schlauchboot geschafft und sah nun auf der einen Seite sein Baby mit der Schwimmweste auf dem Wasser treiben, auf der anderen Seite kämpfte Joelle mit den Wellen. Die marokkanischen Polizisten hatten aufgeholt und waren nur noch wenige Meter von den beiden entfernt. „Wen von beiden sollte ich retten?“ Serge schüttelt verzweifelt den Kopf. Schließlich bekam einer seiner Gefährten das Baby zu fassen. Serge ergriff Joelles Hand und zog sie aus dem Wasser. Doch sie hatten zu viel Zeit verloren und die Boote der marokkanischen Marine umkreisten schon ihr Schlauchboot. Vorbei der Versuch, der sie mehrere hundert Euro gekostet hatte. Vorbei die Hoffnung es nach Europa zu schaffen.
Einer der marokkanischen Polizisten war zutiefst entsetzt darüber, wie Eltern ihr Baby in so eine Lage bringen konnten. „Er hat gesagt, wer so etwas tut, verdient es nicht, Vater zu sein“, sagt Serge. Er wiederholt es wieder und wieder, so als würde ihm eines der Worte doch irgendwann eine Möglichkeit eröffnen, dem nagenden Gefühl der Schuld zu entkommen.
„Manchmal frage ich mich, ob wir Gott etwas getan haben“, sagt Joelle und beugt sich zu ihrem Baby hinab, das aus dem Schlaf erwacht und sich aus den Decken strampelt. „So viele unserer Freunde aus Kamerun haben es schon nach Spanien geschafft. Wir hatten immer nur Pech.“ Seit eineinhalb Jahren sitzen sie in der marokkanischen Hafenstadt Tanger fest. Hier an der Meerenge von Gibraltar ist der Weg über das Meer am kürzesten. Aber die Gewässer sind überwacht und das Übersetzen ist beim dem großen Aufgebot marokkanischer und spanischer Marine alles andere als einfach – genauso wenig wie das Leben hier in Tanger. Hat man schwarze Haut, ist man von vorne hereinverdächtig. Besonders schwer ist es, eine Unterkunft zu finden. Kurz nach der Geburt des Kindes warf der Vermieter Serge, Joelle und die anderen Freunde, mit denen sie eine kleine Wohnung teilten, heraus. Einige Nächte verbrachten sie mit dem Neugeborenen auf der Straße. Dann entdeckten sie in einem Neubaugebiet im Außenbezirk der Stadt eine leerstehende Wohnung und zogen einfach ein. Bisher hat sie dort noch niemand entdeckt und Serge hofft, dass das auch noch eine Weile so bleibt. Seiner Familie zuhause in Kamerun hat er erzählt, unter welchen Umständen er hier lebt. Aber so richtig glauben will ihm niemand.
Viele hundert Kilometer weiter südlich sitzt Emile (25) auf dem Sofa. Draußen wirft sich der Regen in die rote Erde und fließt in kleinen Bächen die breiten Blätter der Bananenstauden hinab. Über der kamerunischen Hafenstadt Douala hängen die Wolken der Regenzeit und bringen Fruchtbarkeit im Land. Emile gähnt gelangweilt. Während der Regengüsse steht das Leben in der Stadt still. Der Boden ist so aufgeweicht, dass man einfach nichts tun kann – aber daran ist Emile ja gewöhnt. Er zieht sein Telefon aus der Tasche und betrachtet die Fotos seines Neffen, die sein großer Bruder Serge ihm über Facebook geschickt hat.
Sein Cousin Marcel schaltet den Fernseher an und setzt sich zu Emile auf die Couch. „Er hat es gut“, sagt Emile sehnsuchtsvoll und betrachtet die Bilder, die Serge von sich und dem Kleinen gepostet hat. „Er ist weg von hier.“ Auf einem Foto ist Serge vor einem Auto auf der Straße zu sehen, ein anderes zeigt Joelle im Sommerkleid an der gepflasterten Uferpromenade in Tanger. Eigentlich unauffällige Motive, aber für Emile bedeuten sie die Verheißungen eines Lebens, das sich nicht in Kamerun abspielt. Frustriert legt er das Telefon weg und starrt stumm auf den Fernseher – wie so oft, wenn die Tage lang werden und es wieder einmal nichts zu tun gibt. So hatte Emile sich sein Leben nach dem Studium nicht vorgestellt. Er war ehrgeizig und fleißig, hatte gute Noten und schließlich sein Diplom in der Tasche. Und nun schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs als Klempner in der Nachbarschaft durch. Marcel geht es ähnlich, er versucht sich als Taxifahrer ein paar Groschen zu verdienen. Auch Emiles Schwester Bernadette hatte kein Glück. Auch ihre Versuche, nach dem Studium einen Job zu finden, blieben folgenlos. Dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern sollte, wagt Emile kaum zu hoffen. „In diesem Land kleben die Alten an ihren Posten“, sagt er und verschränkt verbittert die Arme vor der Brust. „An die wenigen freien Stellen kommst du nur, wenn du einen Verbündeten im Unternehmen hast und Geld auf den Tisch legst. In diesem Land zählt nicht, was du kannst, sondern wie viel du zahlst.“
An der Tür schüttelt sich Emiles Vater Gaston die Regentropfen vom Hut und tritt ein. Er ist genauso hochgewachsen wie Serge und in seinem strengen Gesicht sind die Züge seines Sohnes zu erkennen. Er schreitet durch den Raum und nimmt auf seinem Sessel Platz. Sein würdevoller Gang lässt erahnen, welcher Rang auf seinen Schultern ruht: er ist der König seines Heimatdorfes Ndokbiakat, das traditionelle Oberhaupt. Doch außer Ehre und sozialer und ritueller Pflichten hat das Amt ihm und seiner Familie noch keine Vorteile beschert. Seit vielen Jahren lebt die Familie fernab vom Dorf in der Stadt Douala, wo der Vater als mittelrangiger Offizier eingesetzt war. „Es war eine gute Arbeit“, sagt der Vater und streicht sich die nassen Hosenbeine glatt. Sein Job hatte ihm ein stetes Einkommen beschert und ihn sogar nach Frankreich, Belgien und China geführt. Leider war seine Position nicht hoch genug, als dass er seine Söhne im Militärapparat hatte unterbringen können. Seit einigen Jahren ist er im Ruhestand und ernährt die Familie mit seiner Rente – bei zwei Ehefrauen und sechs Kinder ist diese allerdings schnell aufgebraucht. Immerhin hat er seinen Kindern eine solide Ausbildung ermöglicht. Auch Serge hat studiert und sein Diplom in Sportmanagement gemacht. Nebenbei organisierte er Jugendturniere in einem Fußballclub. Doch dann hatte er wie die meisten anderen keine Arbeit gefunden. Und mit jedem Jahr wurde die Frustration größer und größer. „Als er mir irgendwann sagte, dass er aus Kamerun weggehen wolle, habe ich diese Entscheidung unterstützt“, sagt der Vater. „In Kamerun ist es als junger Mensch kaum möglich etwas aus sich zu machen, wenn du keinen hochrangigen Verwandten hast, der dir den Weg ebnet. Leider hat meine Macht als Offizier dazu nicht ausgereicht.“ Dafür unterstützte der Vater die Reise seines Sohnes mit Geld. Und das immer wieder: als er in Nigeria in der Klemme steckte, als der Transport durch die Wüste teurer war als gedacht und nachdem die ersten Versuche mit dem Schlauchboot gescheitert waren und der letzte Penny auf den Grund des Meeres sank. Nun musste Serge ein Kind ernähren und bat den Vater alle paar Monate um Unterstützung.
Dass die Situation in Marokko nicht einfach ist, hört die Familie immer wieder. Schon oft hat Serge angerufen und darum gebeten, sie mögen der Familie eines Bekannten Bescheid geben, dass ihr Kind im Meer ertrunken sei. Die Vorstellung, dass sein Sohn mit Frau und Kind auch in eines dieser Boot steigt, gefällt dem Vater gar nicht. „Wegen mir muss es nicht unbedingt Europa sein“, sagt er. „Wenn Serge es irgendwie schafft Geld zu verdienen und unsere Familie zu unterstützen, kann er doch auch in Marokko bleiben und muss nicht über das gefährliche Meer.“ Schwerfällig erhebt er sich aus dem Sessel und geht in Richtung Schlafzimmer, um den alten Knochen eine Stunde Ruhe zu gönnen. Die Sorgen um seinen Sohn haben ihn müde gemacht. „Ich weiß, dass ich nicht mehr lange für die Familie sorgen kann“, sagt er und öffnet die Tür zum Nebenzimmer. „Was soll aus ihnen werden, wenn ich diese Welt verlasse und wir keine Rente mehr bekommen? Die einzige Lösung ist Serge. Auf ihm ruht die Hoffnung der ganzen Familie.“
Serge steht in der Küche der kleinen Wohnung in Tanger und rührt Babymilch an. Leider verweigert sein Sohn seit ein paar Wochen die mütterliche Brust und trinkt nur Milch, die sie im Laden kaufen müssen. Schon oft hat Serge versucht, eine Arbeit zu finden: Auf den Baustellen oder am Hafen. Doch die wenigen Arbeiten werden lieber an marokkanische Jugendliche vergeben, die genauso nach Gelegenheiten suchen Geld zu verdienen. Seitdem Europa seinen Nachbarn in die Überwachung der Grenzen einbindet und allein den Versuch über das Meer zu gelangen zum illegalen Akt macht, stehen Menschen mit schwarzer Hautfarbe unter Grundverdacht. Vorsichtig rührt Serge mit dem Löffel in dem Topf auf der kleinen Kochplatte. Den Strom in der Wohnung zapfen sie von der Leitung der Nachbarn ab. Diese Versorgung ist genauso improvisiert wie der Rest des Lebens.
„Meine Schwester hatte vorgeschlagen, das Baby zu ihr nach Kamerun zu schicken, damit Joelle und ich unseren Weg ungehindert fortsetzen können“, sagt Serge und gießt die Milch in ein kleines Fläschlein. „Das kommt für uns aber nicht in Frage. Gott hat uns den Kleinen geschenkt. Nun sind wir drei und bleiben drei.“
Mit dem Kind hat sich die Situation sehr verändert. Unter diesen prekären Umständen in Marokko zu bleiben erscheint Serge genauso unmöglich, wie mit dem Baby übers Meer zu fahren. Doch zurück nach Kamerun zu gehen? Das wäre ein absolutes Scheitern. Vor dem Vater, der hofft, dass er die Familie ernährt. Vor seinen Geschwistern, die ihn bewundern. Vor sich selbst. Denn was außer der altbekannten, lähmenden Lethargie hätte er zuhause zu erwarten? „Es gibt einfach keine andere Lösung“, und runzelt beim Gedanken an die nächste Überfahrt sorgenvoll die Stirn. „Für uns gibt es nur den Weg nach vorne.“
Veröffentlichtevangelisch.deAutorMelanie GärtnerFotografieMelanie Gärtner, Pola SellLandMarokko, KamerunGenreReportageJahr2015Webwww.evangelisch.de