Immer wieder stürmen afrikanischer Migranten in Marokko an den Grenzzaun der spanischen Exklave Ceuta. Die Entschlossenheit zeigt den Ernst ihrer Lage.


Ein Pfiff, aufgeregte Rufe. Erschrocken springt Yves auf und flüchtet hinter seinen Freunden her. Ein paar Sekunden später hechten marokkanische Soldaten die steinigen Hügel empor. Nur langsam verliert sich ihr Rufen in den Wäldern.

Als sich wieder Ruhe über die Wälder senkt, kriechen Yves und seine Freunde aus ihren Verstecken und kehren an den kleinen Platz vor der Höhle zurück, die ihnen als Unterschlupf dient. Razzien wie diese gehören in den Waldlagern der afrikanischen Migranten zum Alltag. So dicht an der Grenze von Marokko und Spanien tut das Militär alles, um ihnen das Leben so unangenehm wie möglich zu machen.

Der Wind weht eisig an der Grenze - Waldlager an der Grenze zu Ceuta

Yves lässt sich erschöpft von der Flucht auf den Boden sinken. Seine Freunde Armand und Kalif tun es ihm gleich. „Wenn Gott wüsste, dass seine Kinder hier in den Wäldern sind, würde er etwas tun, um uns hier rauszuholen“, sagt Armand.

Wenige Tage später ist Armand tot. Ertrunken im Meer bei dem Versuch, um den Grenzzaun herum nach Ceuta zu schwimmen. Wieder sitzt Yves vor der Höhle im Wald. Sein Gesicht ist eingefallen, die Augen sind ausdruckslos. In der Nacht des 6. Februars hatten viele seiner Freunde, rund zweihundert afrikanische Migranten, versucht über den Grenzzaun nach Spanien zu gelangen. Die marokkanischen Soldaten gingen so hart vor, dass einige der Migranten vom Zaun abließen und sich ins Wasser stürzten. Sie wollten um den ins Meer ragenden Zaun herumschwimmen. Mindestens 15 von ihnen verloren dabei ihr Leben, darunter auch Yves‘ Freund Armand.

Viele haben im Meer ihr Leben verloren

Yves zieht den Reißverschluss seines Anoraks bis dicht unters Kinn. Im Winter ist es in den Wäldern eisig. Selbst in Marokko. Mit leerem Blick schiebt er die Plastikplane unter sich zurecht. Schon viele seiner Freunde haben im Meer ihr Leben verloren. Einmal musste er drei Leichen identifizieren, die an der marokkanischen Küste angespült wurden. Ihre Körper waren bereits vom Meerwasser zerfressen, die Augenhöhlen ausgewaschen. Yves schluckt. Es waren drei Männer, die mit ihm zusammen im Waldlager gelebt hatten. Ihr Anblick hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Ihr Schicksal könnte genauso gut ihn treffen.

Yves ist einer von rund 40.000 afrikanischen Migranten, die sich nach Schätzungen des marokkanischen Innenministeriums in Marokko aufhalten. Sie kommen aus Ländern wie Senegal, Mali, Nigeria oder dem Kongo und versuchen an Marokkos nördlicher Küste über die Straße von Gibraltar die andere Seite des Meeres zu erreichen. Andere wollen über die Grenze nach Ceuta. Die Stadt an der nordmarokkanischen Küste ist spanischer Grund und Boden – und damit ein Teil der Europäischen Union auf dem afrikanischen Kontinent. Ein Zaun soll die Exklave vor den Migranten schützen, die jenseits der Grenze, verborgen in den marokkanischen Wäldern auf ihre Gelegenheit warten, um nach Spanien zu gelangen.

Der Wind weht eisig an der Grenze - Yves

Yves tritt vor die Höhle auf die kleine Lichtung. Grelles Sonnenlicht fällt durch die Wipfel der Bäume, die ihre unruhigen Schatten auf den Waldboden werfen. Beklommen geht Yves zwischen den Felsen umher. Der Boden ist übersät mit alten Plastikplanen. Er zerrt an den Fetzen, die sich tief in den Erdboden gefressen haben. An manchen Stellen hat der Kunststoff sich schon fast aufgelöst. „Da drüben hatten wir eine Hütte gebaut“, sagt Yves und deutet auf einen verkohlten Fleck zwischen den Bäumen. „Die Polizei hat alles niedergebrannt.“ Yves war vor fünf Jahren schon einmal hier gewesen. Damals hatte er es mit dem Schlauchboot nach Ceuta geschafft.

Yves hatte seine Heimat nicht ohne Grund verlassen. Er hatte sich mit einem einflussreichen Mann angelegt – in einem Land wie Kamerun ist das ein fataler Fehler. Yves Blick ist hart. „Ich würde es immer wieder tun.“  Ein Nachbar hatte Yves‘ siebenjährige Tochter missbraucht und sich, nachdem Yves ihn angezeigt hatte, aus dem Gefängnis freigekauft. Aus Rache für die Anzeige ließ er Yves von seinen Gefolgsleuten jagen. „Er hätte mich töten lassen“, sagt Yves. „Das ist das Problem in meinem Land: es gibt kein Recht. Jedenfalls nicht für die, die kein Geld haben, es sich zu erkaufen.“ Er schaut kurz auf. „In Europa ist das nicht so.“

Eine Woche nur verbrachte Yves nach seiner Abschiebung in Kamerun. Er wollte seine Tochter sehen. Dann brach er zum zweiten Mal auf in Richtung Europa, obwohl er nun wusste, welche Gefahren der Weg mit sich bringen würde. Nun hängt er wieder in Marokko fest, an derselben Stelle wie Jahre zuvor.

Es ist schwieriger geworden als vor ein paar Jahren. Der Grenzzaun zu Ceuta ist mittlerweile ein Hochsicherheitstrakt. Es gibt die Schlepper, die ihn eingebaut in ein Auto über die Grenze nach Ceuta bringen könnten. Unbezahlbare 3000 Euro kostet dieser Transport. Für rund 800 € bekommt man ein Schlauchboot und mit etwas Glück sogar einen Motor. Doch die kleinen Boote sind den Wellen schutzlos ausgeliefert. Und vor dem Meer hat er seit seiner ersten Überfahrt panische Angst. „Die Jahre vergehen und ich werde immer älter.“ Yves ist 32. Der Gedanke, dass seine Lebenszeit verstreicht und er sie nicht nutzen kann, macht ihn fast wahnsinnig. Müde rafft er sich auf und klettert die bewaldeten Hügel hinunter in Richtung Straße. Wenn ihn der Mut verlässt, macht er sich auf nach Tanger, um in der Stadt auf andere Gedanken zu kommen.

Der Wind weht eisig an der Grenze - Migranten in Tanger

Tanger, eine Hafenstadt an der Meerenge von Gibraltar, liegt rund 50 Kilometer westlich von Marokkos Grenze zu Ceuta. Die Nähe zu Europa prägt diese Stadt. Doch mit dem historischen Stadtkern, durch den im Sommer die Touristenscharen aus Spanien ziehen, hat Yves nicht viel zu tun. Wenn er nach Tanger kommt, zieht es ihn nach Boukhalef, ein Neubaugebiet nicht weit entfernt vom Flughafen.

Die hohen Wohnblöcke des Viertels sind hell und licht, die Straßen weit. Obwohl die Mieten günstig sind, stehen viele Wohnungen leer. Bisher wohnen hier nur ein paar junge Familien, Studenten – und afrikanische Migranten. Wir spazieren durch die hellen Straßen. Vor den kleinen Lebensmittelläden stehen junge Afrikaner, die sich lachend die Zeit vertreiben. Wir biegen in einen Hauseingang und steigen durch das dunkle Treppenhaus hinauf in die Wohnung, in der Yves übernachten kann, wenn er in Tanger ist.

In der Wohnung stehen Dunstschwaden von Fritierfett und Zigarettenrauch. Aus dem Fernseher dröhnt afrikanische Musik. Überall sitzen Menschen. Die meisten von ihnen kommen aus Kamerun. Darunter Anna. Sie ist lesbisch und wird deshalb in Kamerun mit dem Tod bedroht. Stephan hatte bei Protesten gegen steigende Lebensmittelpreise demonstriert und wird seitdem als Oppositioneller verfolgt. Das Pärchen Joelle und Serge haben hier in Tanger ihr erstes Baby bekommen. Beim letzten Versuch mit dem Schlauchboot abzulegen ist das Kind ins Wasser gefallen und fast ertrunken.

Yves hat sich zu seinen Freunden gesetzt. Die Männer hocken um einen kleinen Tisch. Es wird viel geraucht. In der Mitte steht eine Flasche Whiskey. Heute gibt es wichtige Dinge zu bereden. Im vergangenen Jahr hatte die Organisation Ärzte ohne Grenzen und das marokkanische Komitee für Menschenrechte Commité Nationale de Droit de l‘Homme den Umgang mit Migranten in Marokko kritisiert. König Mohammed VI sprach sich daraufhin für humanere Lebensbedingungen für Migranten und Flüchtlinge aus. Seit Januar 2014 dürfen Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus in Marokko nun Papiere beantragen.

Polizeigewalt ist Alltag

„Das einzige, was Marokko damit bezwecken will, ist Europa zu gefallen.“ Yves stellt wütend seinen Plastikbecher auf den Tisch. Dass sich die marokkanischen Autoritäten nun angeblich für die Rechte der Migranten einsetzen, ist für ihn eine Farce. Erst im Dezember letzten Jahres ist Cédric, ein  16 Jahre alter Kameruner, bei einer Razzia der Polizei vom Dach eines Wohnhauses in den Tod gestürzt. Die Migranten hatten seinen leblosen Körper bei einer Demonstration durch die Stadt getragen und die marokkanische Polizei des Mordes beschuldigt. Jeder in der Runde hat in Marokko Erfahrung mit Polzeigewalt gemacht: bei den Razzien in den Wohnungen und Lagern, bei den Abschiebungen nach Algerien, im Alltag auf der Straße.

In Marokko zu bleiben kann sich Yves nicht vorstellen. Und zurück nach Kamerun kann er nicht. Ich frage ihn, ob er damit rechnet, dass Europa ihm das nächste Mal den Aufenthalt gewähren wird. Yves schweigt und blickt zu Boden.

Ein paar Tage später ist Yves zurück im Waldlager. Sein Fuß ist angeschwollen und schmerzt. Die Knüppel der spanischen Polizisten haben ihre Spuren hinterlassen. Anfang März hatten weit über tausend Migranten versucht, gemeinsam den Grenzzaun nach Ceuta zu überwinden. Yves war unter ihnen. Er hatte es auf die spanische Seite geschafft, wurde aber vom spanischen Militär nach Marokko zurückgedrängt.

Yves steigt auf einen Hügel hinter dem Lager. Der Wind fährt ihm heftig durch die Kleider. Es ist kalt hier oben. Aber von hier aus kann man auf die andere Seite sehen. Yves kneift schützend die Augen zusammen. Da vorne liegt Ceuta. Die Halbinsel windet sich weg vom Wald in Richtung Meer, so als wolle sie zeigen, dass sie schon zum Kontinent auf der anderen Seite des Meeres gehört. Der Zaun, der Europa von Marokko trennt, ist von hier aus nicht zu sehen. Aber er ist da. Yves wird hart kämpfen müssen, um an den Ort zu kommen, der ihn nicht willkommen heißt. Er fröstelt. Der Wind schlägt ihm eisig ins Gesicht. Er kommt aus der Richtung, in der Europa liegt.

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Melanie Gärtner
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