Die Schrauben hatte man herausgedreht, die Kappe entfernt. Aus dem stählernen Bauch der Straßenlaterne quillt ein Strauß bunter Kabel. „Hier haben wir Strom gezapft, wenn wir kochen wollten“, sagt Ahmed und zupft an einem der Kabelenden. Es ist später Nachmittag. Die Hitze des Tages wird allmählich erträglicher. Auf dem Midan Tahrir, dem kreisförmigen Platz in Kairos Stadtzentrum, tobt wildes Verkehrschaos. Ein Meer von Autos überschwemmt die Innenstadt, staut sich bis in die verästelten Straßen Downtowns, hupt tösend und hüllt die Szene in einen Schleier aus Smok. Ahmed sieht all das mit leuchtenden Augen. Sein Blick reicht in die Vergangenheit. „Hier an der Umar Makram Moschee war ein Lager eingerichtet, wo die Versorgungslieferungen ankamen. Im Innern der Moschee konnte man übernachten. Dort vor dem Verwaltungsgebäude gab es eine Bühne. Wären wir nicht im politischen Kampf gewesen, hätte es ein Festival sein können.“ Jeden Tag geht Ahmed, 28 Jahre alt und Softwaretester, auf dem Weg zur Arbeit über den Tahrirplatz. Vereinzelt erinnern zerfallene Zelte an die Tage der Revolution. „Es war die beste Zeit in meinem Leben. Die Ägypter standen hier Schulter an Schulter. Wir waren eins in diesen Tagen.“
So blutig er war, der Zauber der Revolution, er hat nicht nur Ahmeds Welt, sondern das Leben vieler Ägypter auf den Kopf gestellt. Plötzlich war es nicht mehr Dauerpräsident Hosni Mubarak, der das Land führte, sondern ein Militärrat. Plötzlich traten andere politische Kräfte in Erscheinung, gab es Neuwahlen. Während sich viele oppositionelle Gruppen aus dem Heer der Revolutionäre noch finden und formieren mussten, marschierte die Moslembruderschaft mit großen Schritten ins neue Parlament. Plötzlich stand für das Amt des Staatsoberhaupts eine Vielzahl von Kandidaten zur Verfügung. Es gab keinen Bus, keinen Laden, kein Café, in dem nicht politische Debatten geführt wurden. Wer wäre wohl der beste Präsident? Wohin würde er das neue Ägypten führen? Die Menschen waren begeistert, politisiert, und aufgeregt ob der Möglichkeit, tatsächlich eine neue Zukunft mitzugestalten. Auch Ahmed steckte die Leidenschaft, die ihn in den Tagen der Revolution gepackt hat, in den Wahlkampf für Abdul Futuh, einem Präsidentschaftskandidaten, der nach der ersten Wahlrunde allerdings ausgeschieden war.
Seit einiger Zeit ist die Begeisterung der Menschen aber resignierter Ratlosigkeit gewichen. Ausgerechnet der konservative Moslembruder Mohammed Mursi und der ehemalige Premierminister Ahmed Shafik hatten im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten. „Das war eine Wahl zwischen zwei Übeln“, sagt Ahmed. Obwohl er bekennender Moslem ist, kann er mit der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“, dem politischen Arm der Moslembruderschaft, nichts anfangen. „Ich denke nicht, dass Ägypten mit Mursi eine gute Zukunft bevorsteht“, sagt Ahmed. „Er hat keine positive Haltung zu Israel und gesellschaftlich sehr konservative Vorstellungen … und trotzdem habe ich für ihn gestimmt“, sagt er und ringt mit den Händen. „Hätte ich Shafik unterstützt, einen Vertreter des alten Regimes … das wäre Hochverrat an der Revolution gewesen. Dafür dürfen die Kämpfer auf dem Tahrirplatz nicht gestorben sein.“ Ahmed Shafik war auf dem Höhepunkt der Revolution vom abtretenden Mubarak als neuer Regierungschef benannt worden. Ahmed ist wütend. Doch er holt Luft und sammelt sich. „Mursi hat zwar sehr konservative Vorstellungen, doch unter ihm gibt es immerhin die Chance, für gesellschaftliche Veränderung zu kämpfen.“
Einige Kilometer südlich vom Tahrirplatz legt Paulette für genau diesen Frieden die Hände zusammen und betet. In der Sankt Marc Gemeinde im Stadtteil Maadi ist an diesem Freitag wieder Gottesdienst. Der Raum der modernen Kirche ist geschwängert von Weihrauch. Ernst blicken die Apostelikonen von der Altarwand. In ihrem Blick liegt die Gewissheit, dass Gott seine Kinder nicht im Stich lässt. In den letzten Jahren wurde diese Gewissheit allerdings auf eine harte Probe gestellt. Seit langem schon klagen die orthodoxen Kopten über Diskriminierung und Ausgrenzung. Der Terroranschlag in Alexandria, der während des koptischen Neujahrsgottesdienstes 2011 über 20 Menschen in den Tod gerissen hatte, schürte die Angst noch mehr. „Vor der Revolution standen hier überall Polizisten“ sagt Paulette, als sie nach dem Gottesdienst zum gemeinsamen Mittagessen ins Gemeindezentrum geht.
Unter der allgegenwärtigen Polizeipräsenz zu Zeiten Mubaraks hatten die Kopten profitiert. Doch seit der Revolution sind Ordnungshüter auf Ägyptens Straßen nur noch selten anzutreffen. Die Alltagskriminalität wie Taschendiebstahl hat zugenommen, weite Teile des Verkehrsnetzes versinken in noch mehr Chaos als sonst. Der Militärrat hatte seine Kräfte nur sparsam eingesetzt, so als wolle er bei den Ägyptern die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit schüren. Und das mit Erfolg.
Wie viele Ägypter wünscht sich auch Paulette wieder mehr Sicherheit. Sie ist 25 Jahre alt und arbeitet als Fremdsprachensekretärin. Die Revolution verfolgte sie nur im Fernsehen. Ihr Vater hatte sie in den Tagen der Aufstände vor Sorge nicht vor die Tür gelassen. „Junge Frauen in Ägypten sind eben sehr behütet.“ Sie lacht. Der Gedanke, dass die Zukunft Ägyptens nun in den Händen der Moslembrüder liegt, lässt sie allerdings verstummen. Ihr braunes Haar fließt bis zu ihren Hüften. Natürlich trägt sie es offen. Warum auch nicht. „Manchmal ernte ich böse Blicke, besonders, wenn ich in der U-Bahn fahre“, sagt sie. „Es kam schon vor, dass mich verschleierte Frauen ganz verächtlich ansahen. So, als wäre ich ein schlechter Mensch“, empört sich Paulette. Nach der Revolution sei es besser geworden, erzählt sie. Die Szenen auf dem Tahrirplatz hätten die Menschen verändert, als Christen und Moslems Seite an Seite standen und wussten, dass sie Ägypten nur verändern konnten, wenn alle zusammenhielten.
Zwar hatten sich die radikal-islamistischen Salafisten im Kampf um das Präsidentenamt nicht bewähren können. Auch die Partei der Muslembrüder gibt sich moderat, um gemäßigte Wähler nicht zu verschrecken. Aber die Versprechung eines „sanften Islam“ in Ägypten ist für Paulette nichts als Lüge. „Die Moslembrüder haben ständig Dinge versprochen, die sie nicht gehalten haben: sie wollten keine Mehrheit im Parlament beanspruchen, doch einige Wochen später besetzten sie einen Großteil der Sitze. Dann wollten sie keinen Präsidentschaftskandidaten stellen, und was haben sie gemacht? Ich traue ihnen nicht.“
Ihr Lieblingskandidat für das Amt des Präsidenten wäre Amr Moussa gewesen. Er hatte es aber nicht über den ersten Wahlgang hinaus geschafft hat, und auch ihr zweiter Favorit Ahmed Shafik, der ehemalige Luftwaffenoffizier, hatte die Stichwahl nicht für sich entscheiden können. Nun kann sie nichts weiter tun als hoffen, dass Mursi seine Wahlversprechen auf ein moderates Ägypten wahr macht, und dass die Ernennung des liberalen Richters Mahmud Mekki zum Vizepräsidenten mehr ist, als nur Symbolpolitik.
Nicht alle können sich mit der Hoffnung auf Frieden und Sicherheit abfinden. Unter vielen Leuten haben sich Resignation und Müdigkeit breitgemacht. Hani ist 35 Jahre alt, Filmemacher und hatte im Januar 2011 ein Stipendium in den USA. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger und konnte nicht reisen. Also verfolgte er die Geschehnisse in seiner Heimat am Fernseher. Viele seiner Freunde haben Tage lang auf dem Tahrirplatz für eine bessere Zukunft Ägyptens ausgeharrt.
Anfangs ließ auch Hani sich von der Stimmung mitreißen, telefonierte von Amerika aus täglich mit seinen Freunden, ließ sich berichten, nahm teil, machte Mut. Doch als er einige Monate später zurück nach Ägypten kam, legte sich die Begeisterung schnell. „Ich habe begriffen, dass die sogenannte Revolution keine war“, sagt Hani nüchtern und zieht nachdenklich an seiner Wasserpfeife. In der angenehmen Kühle der einbrechenden Nacht sitzt er mit Freunden in einem Café in Wust Al- Balad, in Kairo Downtown. Langsam bläst er den Rauch aus und hüllt den kleinen Tisch in eine wohlriechende Wolke aus Pfirsicharoma. „Das waren aufgebrachte, wütende und dringend notwendige Aufstände, aber keine Revolution“, sagt er. „Eine Revolution krempelt die Verhältnisse um, ändert die Strukturen. Aber das ist in Ägypten nicht passiert. Die Probleme sind die alten. Korruption, Analphabetismus und Intoleranz, nichts hat sich daran geändert.“ Hanis Freunde nicken zustimmend. Die, die vor rund einem Jahr dafür brannten, ein neues Ägypten zu schaffen, hängen nun schlapp in ihren Stühlen und starren auf die Teegläser vor sich. Sie sind müde. Zu viele Rückschläge haben sie einstecken müssen. Zu oft hat der Militärrat das Volk vor vollendete Tatsachen gestellt, hat alle legislativen Befugnisse an sich gerissen, nachdem das Verfassungsgericht kurz vor der Wahl das Parlament auflöste. Die Ägypter mussten ihren Präsidenten in einem Land bestimmen, das weder Parlament noch Verfassung hat.
Hani hat keinem der beiden Kandidaten seine Stimme geben. „Ich habe mir das lange überlegt. Aber Boykott war das einzige, was mir in dieser Situation richtig schien.“ Wie viele Ägypter hat Hani das Vertrauen in die politischen Strukturen verloren. Die großen Worte wie Freiheit oder Demokratie sind für ihn nichts mehr weiter als Worthülsen. Er flüchtet sich ins Private. „Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass jemand dieses Land für uns zum Besseren führt. Wir selbst müssen die Gesellschaft verändern. Wir müssen die Armen unterstützen und dürfen im Alltag die Korruption nicht mehr dulden.“
Sein Blick schweift auf die Straße, auf der trotz der späten Stunde noch Händler ihre Waren feilbieten. Auch ein Schuhhändler ist unter ihnen. Hani muss an die Bilder der Aufstände denken, als die Demonstranten dem alten Präsidenten als Ausdruck der Verachtung ihre erhobenen Schuhe entgegenstreckten. Hani grinst. Trotz der misslichen Lage hat er nicht den Humor verloren, für den die Ägypter berüchtigt sind. „Vielleicht sollten wir unserem neuen Präsidenten einen Karren Schuhe vor die Türe stellen“, lacht er. „Willkommen im Amt, Präsident der Schuhe.“
VeröffentlichtPublik ForumAutorMelanie GärtnerFotografieMelanie GärtnerLandÄgyptenGenreFeatureJahr2012Webwww.publik-forum.de